Rundbrief Februar 2018 - Die moderne Krankheit Einsamkeit
Ministerium für Einsamkeit
In Großbritannien gibt es seit Anfang Januar ein Ministerium für Einsamkeit. Es soll der zunehmenden Vereinsamung von immer größeren Teilen der Bevölkerung entgegenwirken. Regierungschefin Theresa May begründete die Entscheidung mit der „traurigen Realität des modernen Lebens“ von mindestens neun der 66 Millionen Briten, die dauerhaft einsam seien.
Eine Epidemie
In Deutschland geben 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung an, sich dauerhaft einsam zu fühlen. In den letzten drei Jahrzehnten ist die Zahl der Betroffenen kontinuierlich gestiegen. Ein Hintergrund dessen ist, dass ca. 40 Prozent aller Deutschen allein leben, meist - mit dem Alter zunehmend - unfreiwillig. Erwiesen ist, dass Einsamkeit die Sterblichkeit genauso stark erhöht wie intensives Rauchen. Dazu der berühmte Kardiologe Bernard Lown (96): "Ich habe mich mein ganzes Leben mit Herz- und Kreislauf-Krankheiten beschäftigt. Doch Cholesterin, Bluthochdruck usw., Risikofaktoren, über die ständig geforscht wird, sind vergleichsweise unwichtig. Für das Entstehen vieler Herz-Kreislauf-Krankheiten sind Einsamkeit und Verzweiflung verantwortlich." Dieser Zusammenhang ist auch in der Forschung belegt. Bei Probanden in sozialer Isolation ist die Konzentration des Stresshormons Cortisol erhöht. Es ist das Hormon, das uns im Ernstfall abwehrbereit macht und entzündungshemmend wirkt. Bei chronisch-einsamen Menschen bewirkt die dauerhaft erhöhte Cortisol-Konzentration, dass die entzündeten Zellen nicht mehr so gut auf das Hormon reagieren. Entzündungen können daher nicht gelindert werden und werden chronisch.
Neoliberalismus – eine Manie, die einsam macht
Einsamkeit ist eine Begleiterscheinung des modernen Wunsches nach individueller Freiheit, weg von den Beschränkungen und Zwängen traditioneller Institutionen und Lebensformen: Religion, Familie, Dorf, tyrannische Chefs…. Der neoliberale Kapitalismus macht allerdings den Wunsch nach individueller Freiheit zur Manie. Immer mehr von uns werden zu willigen Agenten der eigenen Versklavung im Dienste der Konkurrenz - zu allzeit bereiten Karrieristen, die das Familien- und Privatleben dem persönlichen Fortkommen opfern. Dabei erscheinen die Bindungen an andere als Hindernis der eigenen Freiheit. Und wenn die Einsamkeit quält, kauft man sich Trost. Ein Bad mit Duftkügelchen statt vom Partner umarmt zu werden, der Kauf eines exquisiten Esstischs, statt gemeinsam zu kochen. Deutsche bereiten unter der Woche durchschnittlich nur noch 0,9 Mahlzeiten am Tag frisch zu. Beim Essen geht es dann einsam zu: Nur bei 1,22 Mahlzeiten an Wochentagen sitzen Deutsche im Schnitt gemeinsam mit anderen am Esstisch.
Produktiv und einsam
Doch langfristig schadet Einsamkeit Körper und Seele - und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb werden für uns moderne Nomaden Orte und Zusammenhänge wichtiger, in denen es möglich ist, Solidarität und Gemeinschaftsgefühl zu finden. Die Finanzierung von Jugendclubs, Sportvereinen, Bibliotheken und Initiativen wird aber von Regierungen aller Couleur permanent gekürzt und untergraben. Alles, was nicht “produktiv” erscheint, wird eliminiert – alles, was für die sog. Investoren keinen Return-on-Investment bringt. Gleichzeitig werden alle Hemmnisse für optimale Renditen abgebaut, wie z.B. die Mietpreisbindung. Die permanent steigenden Mieten und der damit einher gehende Verdrängungswettbewerb in Metropolen fördern ebenfalls die soziale Isolation. So haben in Berlin mehr als die Hälfte der Bewohner Angst, ihre Miete nicht mehr zahlen zu können und deswegen ihre vertraute Umgebung verlassen zu müssen. Schon heute können viele Alleinstehende mit Niedriglöhnen und -Renten nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Unser Filmprojekt „Der marktgerechte Mensch“
soll in einer Welt, in der immer mehr Menschen allein bleiben, unsere Solidarität und unseren Gemeinsinn stärken. Denn es geht auch anders, wie wir an Mut machenden Beispielen zeigen werden. Lasst uns nicht in Konkurrenz zueinander versinken, während die Reichen immer reicher werden und wir immer schutzloser und ausgelieferter. Wir können nur zueinander finden, wenn wir unsere gemeinsamen Interessen erkennen und uns wehren. Der Film „Der Marktgerechte Mensch“ wird ein Werkzeug dazu sein.